Der Maler Mertens. Ein Vorwort


Dr. phil. Peter Gerlach Institut für Kunstgeschichte der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen




Bernhard Mertens ist in Köln geboren. Er ist Maler. Mit 23 Jahren wurde er freischaffender Künstler und stellte im Kölner Kunstverein bei der Jahresausstellung Kölner Künstler 1969 seine Arbeiten vor. Seine Ausbildung, die schon in seinen jungen Jahren im Zeichnen, durch seine Eltern gefördert, begonnen hatte, setzte er 1970 - 1971 mit einem Studium an der Fachhochschule für Bildende Kunst in Köln fort, an die sich zwei Ausstellungen im Jahre 1971 anschlossen (Kölner Kunstmesse und Frauenzentrum George Sand, Köln).

Seitdem folgten Ausstellungen in regelmäßiger Folge, die auf ein Publikumsinteresse schließen lassen, zu einer Zeit, in der sehr unterschiedliche Stilrichtungen auf dem Kunstmarkt vorherrschten: Konstruktivismus, Popart und die Nachfolgen des abstrakten Expressionismus bis hin zur Konzeptart und zum Phantastischen Realismus der Wiener Schule.

Was hat Bernhard Mertens dagegenzusetzen? Denn in keine dieser Gruppierungen ist er einzuordnen, das wird auf den ersten Blick deutlich. Diese Bilder bedürfen einer Erläuterung, die sich sowohl auf die Arbeit des Malers Mertens und den besonderen Charakter seiner Gemälde, Collagen und kleinen plastischen Arbeiten beziehen, als auch auf Einlassungen, die Mertens gelegentlich gesprächsweise äußerte.

Ein Satz wie "Für mich heißt der Augenblick, die jetzige Sekunde, selbstbewußt leben und sich ganz der Arbeit hingeben..." ist eine vieldeutige Aussage, die erst angesichts der Gemälde verständlich werden kann. Unbestreitbar ist jede seiner Arbeiten, wenn sie uns konkret vor Augen steht, vergegenständlichte Zeit, die Mertens zur Herstellung seiner Gemälde aufgewendet hat: Wer ihn je in seinem Haus besuchte und bei der Arbeit zugesehen hat, wird diesen Eindruck angesichts jedes Bildes hier wieder in Erinnerung rufen können. Er entspricht einer alten handwerklich geprägten Vorstellung vom Malerhandwerk: bedächtig, ja aufwendig entstand jedes einzelne Bild.

Der Farbauftrag mit durchschimmernden Lasuren läßt dies deutlich ablesen, gleichgültig, ob es sich um weite Flächen eines Hintergrundes oder Vielteiliges im Vordergrund handelt.

Im Atelier hängen fertige Bilder neben unverkennbar unfertigen, an denen Mertens von einem zum anderen wechselnd weitermalt. Das ist nun einerseits durch die Maltechnik bedingt, denn die Farbschichten brauchen zwischendurch immer wieder Zeit zum Trocknen.
Andererseits drückt sich darin auch eine bestimmte Haltung des Malers aus: Er versteht sich als solider Handwerker, der seine Bilder malt, ohne aufwendige oder auch nur flüchtige Skizzen anzufertigen. Malen erscheint als Meditation, Konzentration auf eine Bildkonzeption, die im Bewußtsein ausgebildet wird. Hieraus lassen sich Schlüsse ziehen auf die Schritte, die den hier präsentierten fertigen Bildern jeweils vorausgegangen sind: Es sind Dialoge ganz eigener Art: mit Selbstgesprächen vergleichbar, wenn Mertens immer wieder unterbrechend das Bild verändert. Der Dialog ist ein Problem der Transformation von Dingen unserer Umgebung, die wir mit Begriffen erfassen, deren sich unsere Biographie aber schon bemächtigt hat. Individuelle Erfahrungen haben sich längst eingemischt und werden in eine Bildersprache übersetzt.

Das Ergebnis ist nun keineswegs erzählte Begebenheit, narritive Szenen. Die Probleme, die beim Umsetzen auftreten, werden getilgt. "Einem Künstler fällt es schwer, über sich und sein Werk zu erzählen, da er nicht in Worten oder Begriffen mitteilen kann, was für ihn unaussprechlich ist", sagte Mertens einmal. Sicherlich ein oft gehörter Satz, aber dennoch die genaue Bezeichnung für diese Übersetzung: Aus dem Denkvorgang, der an Sehen und Empfinden gebunden ist, diejenigen Bilder zu destillieren, die adäquat erscheinen.
Das gelingt nicht immer mit gleicher Präzision und vollkommenen Formen, es gibt Brüche und Fehlgriffe. An jedem einzelnen Bild läßt sich das Ergebnis überprüfen. Kaum Ereignisse, keine Begebenheiten, die durch Bewegungen und Handlungen dargestellt würden, sondern Zuständlichkeiten, wie angehaltene Bildmetamorphosen sind aus dem Dialog im Bild festgehalten.

"Omega Stadt" (Öl auf Holz 1971) gibt das Bild eines greinenden Säuglings rechts im Vordergrund wieder, über dem sich eine linear angelegte Architektur windet, der links eine säuberlich geordnete Natur aus diversen Tiefenräumen zugeordnet ist. Dort entschwebt - ein Zitat - ein posauneblasender Engel aus einem großen grünen Schneckenhaus. Eine farbenfrohe Welt. Links unten windet sich eine Büste, wie zum Leben erwacht, mit ihrem Blick dem Betrachter entgegen. Omega-Stadt, die Stadt des Endes (Alpha-Omega).
Der "Harlekin" von 1976 (Öl auf Holz) steht mit seinem Spielzeug von einer dicken Schale umfangen, abgeschirmt gegen die Frau links und den Knaben auf der Treppe rechts vor der fernen Natur, alle Attribute der Friedfertigkeit auf seinem Haupte versammelt, bewegungslos und beziehungslos vor dem winzig kleinen geschlossenen Gärtchen zu seinen Füßen.

In den Titeln begegnen uns Substantive, Begriffe, zuweilen kombinierte Begriffe. Auf der sprachlichen Ebene müssen solche Kombinationen von Begriffen herrschen, damit wir der Gegenstände habhaft werden. Denn ohne ihre Namen, die Begriffe, die wir mit ihnen verbinden, könnten sie von uns gar nicht gesehen werden. Keine falsche Naivität und Spontanität erwartet der Maler von uns.
"Höhenflug" (Öl auf Leinwand, 1974), und "Fortuna" (Öl auf Leinwand, 1977) zeigen uns, wie derartig kombinierte Begriffe oder Begriffskombinationen durch Bilder vorgestellt werden können. Bildebenen werden montiert, Bilder in ein Bild gesetzt, die zugleich Zitatcharakter haben. Alle diese Bilder sind uns in Teilen bekannt, aber dennoch neu in dieser Zusammensetzung, teils vertraut, teils befremdlich, gelegentlich langweilig, wenn wir handlungsreiches Geschehen vorziehen. Das delikate Rätselspiel mit dem eigenen Erinnerungsvermögen zu spielen, Alltag, Kunst und Bilderwelt zusammenzusuchen, um die damit verknüpften Erinnerungs- und Erlebniswerte bei der Betrachtung von Mertens Bilder ins Spiel zu bringen, ist nicht jeder sofort bereit.

Wohl am auffälligsten beeindruckt auf den ersten Blick die willkürliche und doch nicht chaotisch erscheinende Gegenstandswahl und Gegenstandskombination in den Bildern. Das erfaßt man am ehesten, wenn man sich auf den ihnen eigentümlichen Ausdruck einläßt und sein Zustandekommen nachvollzieht: Die Gegenstände sind aus ihrem natürlichen Kontext isoliert, sie stehen in einem ungewöhnlichen Kontext. Entweder ist das durch Vergrößerung oder Verkleinerung erreicht. Gegenstände erscheinen in großer Ferne bei völliger Umriß- und Farbenschärfe, oder in einer ganz und gar künstlichen Farbe. Im Bild dann erscheint nur ganz Weniges - ein Hauptmotiv - stark vergrößert im Vordergrund, vieles dagegen kleiner im Hintergrund (so das Haupt Christi auf dem Bilde "Christus", Öl auf Holz, 1972, von dem ausstrahlen - oder keilförmig ringsum Bilder mit weiteren Figuren in eine landschaftliche Tiefe verlaufen). In diesen ist das Hauptmotiv von weiteren Einzelteilen begleitet, die sich zu einer "Umgebung" addieren. Diese kann ihre Realität nur im Bilde behaupten. Daß sie uns zu keinem Zeitpunkt an einem anderen Ort begegnen wird, dessen sind wir uns ganz sicher. Dennoch ist uns keines der Elemente fremd. Oder anders ausgedrückt: Der Ort, wo die uns bekannt erscheinenden Elemente im Bild vorgeführt werden, ist der der künstlichen Bilderwelt, die wir in unserer Alltagserinnerung nirgends aufzufinden wissen.
Wir sehen also, daß der Dialog des Malers Mertens durchaus mit der uns umgebenden künstlerischen und kulturellen und technischen Realität und der Sprache, mit der wir diese Realität bezeichen, stattgefunden hat. Und dennoch hat er sich an irgendeinem Punkt beim Malen der Bilder davon gelöst und ist in einen Dialog innerhalb einer Bildrealität übergegangen. Er selber begründet das mit folgenden Worten:
"Der Triumph des Guten über das Böse in mir gibt mir Kraft und Mut, Erkenntnisse bildlich darzulegen. Ständige Überwindungen machen ständige Erkenntnisse möglich. Diese niedergelegt in meinen Arbeiten vermehren das Verständnis für meine Arbeiten." Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß - in einer anderen Nuance der Formulierung - die Struktur des Dialogs aus einer sprachlichen Struktur in die einer bildlichen übersetzt ist. Aus dem zeitlichen Nacheinander der Rede ist das räumliche Nebeneinander des Bildes geworden.
Man könnte geneigt sein, sowohl den Rätselcharakter, als auch die oben erwähnten Begriffskombinationen in ihrer bildlichen Übersetzung für eine Spielart des geläufigen Rätselspieles, des Rebus, zu halten. Dafür spricht manches, was aus dem Erbe des Surrealismus und des Dadaismus mit ihren frappierenden Spielen mit der Realität und der aufgebrochenen Identität von Realität und Abbild erwachsen ist. Ist auch in diesen Bildern der Rätselcharakter beibehalten, der beim Rebus allemal im Vordergrund steht, und der Betrachter aufgefordert ist, aus den Bildern und Bildfragmenten einen begrifflichen Sinn zu erschließen? Ich meine doch, wenn auch nicht mit der Ausschließlichkeit hinsichtlich des Ergebnisses, das hier vielfältiger - subjektiver - ausfallen kann als beim Rebus, dessen Ergebnis immer ganz eindeutig ist. Womit hängt das im Bild zusammen?

Hier sollte man sich einmal fragen, ob notwendigerweise alle diese Bilder einen oft sentimental erscheinenden landschaftlichen Hintergrund haben müssen? Sicher, die Figuren und Gegenstände im Bilde brauchen ihn, um Platz zu finden! Durch ihn erst können Größen- und damit Bedeutungsrelationen hergestellt werden. In der romantischen Malerei des 19. Jahrhunderts, dann aber vor allem in der surrealistischen Malerei der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dieser unbegrenzt erscheinende, träumerische Tiefensog ausgebildet worden. Macht er die farbigen Gestalten im Vordergrund unwirklicher oder greifbarer?
Es sind Landschaften, ohne die wesentlichen Merkmale einer Landschaft aufzuweisen: eine unbestimmbare Jahreszeit, eine unbestimmbare Tageszeit, kein typisches Klima, schon gar nicht ein typisches Wetter herrscht in ihnen. Ein bekannter geographischer Ort läßt sich von ihnen auch nicht ablesen. Demnach sind es Orte, an denen nicht nur menschliche Lebewesen hingebannt sind, sondern auch Pflanzen, zuweilen, aber höchst selten, Tiere. Allen fehlt eine ablesbare biologische Symbiose. Perspektive durchherrscht sie, weist ihnen einen Platz in unserem Sehfeld an.

Der Rahmen gewinnt an Gewicht. Ihn gestaltet Mertens mit größter Aufmerksamkeit, um die Künstlichkeit der Darstellung zu unterstreichen. Zugleich betont er ihn und erhebt ihn zum Bestandteil der Komposition, an der er nichts dem Zufall überlassen möchte. Diese Art scharf kontrollierter Konstruktion zieht allzuleicht das Verdikt kühler Rationalität und eklektizistischer Haltung auf sich.
Dieser Gefahr ist sich Mertens durchaus bewußt und manches Bild ist ihm in diesem Sinne auch schon einmal mißglückt. Die gelungenen Bilder jedoch, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, weisen auf die meditative Seite hin, jene Vorstellung, daß es einen Zusammenhang zwischen uns und den Dingen gibt. Nicht etwa eine geheimnisvolle Kraft, die den Physikern noch nicht zu messen gelang, sondern jene Kraft, die aus dem lebenslangen Umgang mit Dingen erwächst, die eine vielfältige Beziehung für uns herstellt, zwischen uns und dieser Umwelt, in der wir uns fremd oder heimisch vorkommen. Diese Beziehungen auszudrücken, bedarf es oft anderer Kategorien als die der Naturwissenschaft und ihren Kausalitätsvorstellungen, anderer Kategorien als die der Sprache mit ihren semantischen Räumen und der biegsamen Enge der syntaktischen Regeln.

Bildnerische Kategorien erwachsen aus dem handelnden Umgang mit dieser Umwelt, sie bilden sich am Erleben und Erleiden von Situationen, wie dem Sterben einer Taube in der Gosse vor dem eigenen Haus in Köln, aus der die Serie der Collagen als eine Hommage an Max Ernst entstanden ist. Sie zum Anlaß zu nehmen, Anklagen zu erheben und immer wieder nach dem Alltag zu fragen, ist Mertens Antwort auf das Unbehagen und das Unverständnis, mit dem wir täglich in der vertrauten Umgebung Fremdes und Befremdliches antreffen.

Solche Begegnungen veranlassen ihn, in sich selber nach den Gründen für Teilnahme und Verschlossenheit gegenüber der Welt um uns zu fragen, um die Beziehungen weiterführen zu können und nach neuem Ausdruck für diese Beziehungen zu suchen, die er in seinen Bildern zur Sprache bringt.